Über die MÄDCHENBLUMEN
by Emilie Inniger
Was in den Jahren 1886-1888 einem Anfall von Hingebung an das weibliche Geschlecht entsprungen ist, lässt uns 150 Jahre später die Haare zu Berge stehen:
Die vier Gedichte «Mädchenblumen» von Felix Dahn beschreiben je einen Typus Frau, poetisch verpackt in – wie könnte es anders sein – Blumenarten. Was wäre reizvoller, als das schöne Geschlecht metaphorisch als Naturphänomen schmachtend zu besingen?
Dass Frauenfiguren und -symbole in den meisten Sparten der Kunstgeschichte einen prominenten Platz einnehmen, ist uns nicht neu. So ernteten Namen wie Picasso oder Schiele nicht zuletzt wegen der künstlerischen Darstellung ihrer weiblichen Musen Ruhm und Anerkennung. Sie erschlossen dem männlichen Blick durch ihre Kunst ihre persönliche Perspektive auf eine idealisierte Weiblichkeit.
Männlichkeit sieht, Weiblichkeit wird gesehen. [1]
In der klassischen Musikwelt sind aus heutiger Sicht sexistische Inhalte keine Seltenheit. Man braucht nicht lange im Opernrepertoire zu suchen, um auf undifferenzierte und stereotyp dargestellte Frauenfiguren zu treffen.
Für mich als klassische Sängerin, die ich durch meine Interpretation von solch höchst problematischen Texten diese männlich-dominierte Sichtweise erneut heraufbeschwöre, ist es kaum möglich, mich von dieser Problematik aktiv zu distanzieren. Die Frage, wie ich in einem solchen Werk meine eigene Richtung einschlagen kann, meine eigenen künstlerischen Absichten verfolgen kann, ohne das Werk zu zerschlagen, bleibt häufig aussen vor. Verändere ich das Werk und eigne es mir neu an oder bleibe ich dem Original treu?
Dem Kollektiv Augenlieder ist die Texttreue des klassischen Kunstliedes ein Anliegen. Wir entscheiden uns, Musik und Text unverändert wiederzugeben. Gleichzeitig mischen wir dem Werk das Medium Film bei und wollen damit elitäre Aufführungsformen, verstaubte Sprache und problematische Inhalte durch die Linsen der Kamera neu beleuchten.
Bei unserem Pilotprojekt «Mädchenblumen» liessen wir die vier Frauentypen zu einer einzigen Figur verschmelzen. Sie repräsentiert vier verschiedene Persönlichkeitsanteile, die als solche weder mit Weiblichkeit noch Männlichkeit konnotiert werden müssen. Die Figur wandelt sich durch den jeweiligen Blick des Betrachters.
Und doch liegt uns ein Text zugrunde, der weibliche Geschlechtsstereotype beschreibt. Die Kamera und der gesungene Text scheinen mir in einer voyeuristischen Haltung die Figur zu verfolgen, doch gibt sie (die Figur) Antwort darauf. Sie entwickelt sich in eine dem Text entgegengesetzte Richtung und blickt zurück zum Betrachter – zu uns.
Durch unsere filmische Umsetzung der «Mädchenblumen» entsteht eine Reibung zwischen Texttreue und der Ablösung davon, zwischen veraltetem Diskurs und moderner Filmsprache. Die vier symbolisch dargestellten Objekte der Begierde verschmelzen zu einer einzigen vielseitigen Figur, die selbst zum Subjekt wird.
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[1] Janine Schmutz, Kunstvermittlerin der Fondation Beyeler; https://www.artinside.ch/der-andere-blick-auf-den-weiblichen-koerper/